Future (Arbeitstitel): Prolog

“Kraftvoller Schlag, aber das Timing stimmt nicht. Den kann jeder Gegner meilenweit voraussehen.”

Scheinbar nicht, dachte Eris, denn ihre Schwester war ihm verzweifelt hinterhergehechtet und hatte den Ball nur noch mit der Schlägerkante erwischt.

Das sprach sie allerdings nicht laut aus, sondern sprang nun ihrerseits nach vorne, um den trudelnden Ball wieder in den Griff zu bekommen. Weil er nicht viel Tempo draufgehabt hatte, war ihr das nach gefühlten Jahren des Trainings ein Leichtes und sie schickte ihn direkt zu Ylva zurück, die nun ebenfalls geschickt konterte.

Es war wohl nur ein Ausrutscher gewesen, stellte sie erleichtert fest. Ihre Lehrerin hatte zwar missbilligend die Augen zusammengekniffen, ihr Versagen aber nicht kommentiert, sodass sie darüber hinweggesehen haben musste.

“Fang den Ball”, befahl die Lehrerin und Ylvas Hand schoss regelrecht in die Höhe, um ihn aus der Luft zu greifen.

Sie verzog kurz das Gesicht, als der Ball gegen ihre Handfläche prallte, aber sie kniff die Lippen zusammen und schluckte ihren Schmerz herunter.

“Ihr spielt jetzt ein Set gegeneinander. Und ich will einen Gewinner sehen.”

Instinktiv warfen sich die Schwestern einen Blick zu. Sie kannten sich lange genug, um den Zweifel in den Augen der anderen zu erkennen: War Miss Bridgefort etwa dahinter gekommen, dass ihre Serie von Wettkämpfen nicht zufällig immer mit einem “Unentschieden” geendet hatte?

“Natürlich. Dieses Mal gewinne ich”, stimmte Ylva selbstsicher zu, aber ihr entging das leichte Zittern, das in ihrer Stimme mitschwang, nicht.

“Du hast die Ehre.”

Sie warf ihr den Ball zu und Eris fing ihn, ohne ihn auch nur ansehen zu müssen. Stattdessen starrte sie in die Augen ihrer Schwester, in der Hoffnung, dort irgendein Zeichen, irgendeinen Hinweis auf einen weiteren Plan zu finden, doch sie wurde enttäuscht.

Sie musterte den Ball in ihrer Hand und dribbelte ihn ein paar Mal probeweise, bevor sie sich zum Aufschlag streckte. Er schoss zielsicher auf die gegnerische Seite des Feldes, wo Ylva bereits lauerte und ihn mit einem schnellen Schlag zurück schmetterte. Eris konterte ihn trotzdem und beobachtete den nächsten Zug ihrer Schwester.

Sie hatte bereits zum nächsten Schlag ausgeholt, sodass Eris schon jetzt ein paar Schritte nach hinten machte, um den Angriff erwidern zu können. Doch im letzten Moment nahm Ylva den Schwung aus ihrem Schlag. Der Ball landete knapp hinter dem Netz, sodass er für sie unerreichbar wurde.

Der Rest des Sets lief recht ausgeglichen, doch als es 30-30 stand, schien Ylva ihre Strategie zu ändern. Eris konnte ihre Bälle kaum erwidern und sie landeten immer knapper hinter dem Netz. Als der allerletzte Angriff auf sie zukam, hatte sie nur den Bruchteil einer Sekunde Zeit, um ihn zu erwidern. Fassungslos starrte sie auf ihre leere Hand. Der Ball hatte so viel Geschwindigkeit angenommen, dass sie den Schläger nicht mehr hatte halten können.

“Der Sieg geht an Ylva. Eris, streng’ dich nächstes Mal mehr an.”

Der schneidende Ton von Miss Bridgefort traf sie nicht so sehr wie der entschuldigende Blick ihrer Schwester. Sie schien ihren Triumph zu bereuen, doch Eris lächelte ihr aufmunternd zu, auch wenn sie sich darüber ärgerte, dass ausgerechnet ihre älteste Freundin sie so hatte überraschen können.

“Morgen arbeitet ihr an eurer Ballkontrolle. Versucht, nächstes Mal nicht jeden eurer Schritte durch eure Körperhaltung zu verraten.”

“Verstanden.”

Kaum hatten sie sich umgedreht, schlich sich ein Grinsen auf ihre Gesichter. Das war die letzte Stunde für heute, jetzt gehörte der Rest des Abends ihnen – Wenn man davon absah, dass sie am Ende der Woche ein Examen hatten, für das sie eigentlich lernen sollten.

Zuerst mussten sie sich allerdings duschen. Zum Glück hatte die Sporthalle ein eigenes Badezimmer, das diesen Namen wirklich verdiente. Nur das Beste für die Barnham-Töchter.

Sie riss sich das Tenniskleid regelrecht vom Körper und ließ es unachtsam in den Wäschekorb fallen, bevor sie ihre Schuhe von den Füßen kickte, sich der Socken ebenfalls entledigte und regelrecht unter die Dusche sprang.

Sie wollte keine Zeit verschwenden und duschte deshalb schnell, aber gründlich. Nicht, dass Direktorin Cromwell noch einen Fussel auf ihr entdeckte und einen Herzinfarkt bekam.

Fast zeitgleich sprangen die Schwestern wieder aus der Dusche und eilten in die Umkleide zurück, wo jemand ihre alte Kleidung durch die Kleider ersetzt hatte, die angeblich ihre Schuluniformen darstellten, denen der anderen Begabtenschulen aber nicht wirklich ähnelten.

Sie streiften die Kleider über. Natürlich hatten sie die gleiche Farbe, denn Zwillinge mussten scheinbar zum verwechseln ähnlich aussehen. Nach ihren Präferenzen hatte sie einfach niemand gefragt.

“Sobald ich hier raus bin”, verkündete sie, “färbe ich mir die Haare blond.”

Ylva, die schon mit dem Anziehen fertig war und sich jetzt beschäftigte, ihre Haare zu kämmen, sah sie verwundert an.

“Wirklich? Findest du meine Haare so hässlich?”

Sie mussten beide lachen. Natürlich hatte sie das nicht so gemeint, das war ihnen beiden klar, aber ein bisschen Individualität konnte nicht schaden.

“Aber mal ehrlich, was wirst du machen, sobald wir unseren Abschluss haben?”

Ihr Arm erstarrte mitten in der Bewegung. Erschrocken sah sie sich zu ihr um und bemerkte gleich den ernsten Zug um ihre Lippen.

“Was willst du machen?”, fragte sie stattdessen, “Haarefärben ist ja wohl nicht dein einziges Ziel.”

Sie wunderte sich ein bisschen über das Verhalten ihrer Schwester, wollte jedoch erst ihre Frage ehrlich beantworten, bevor sie nachbohrte.

“Ich bin noch nicht sicher. Ich meine, die Welt steht uns offen, oder?”

“Ich schätze, das stimmt.”

Zufrieden sah sie nicht aus, aber sie fuhr damit fort, ihre langen, schwarzen Haare zu kämmen. Eris fing selbst damit an, denn durch das Rubbeln mit dem Handtuch hatte sie einige Knoten in ihre eigenen befördert, und hatte prompt das Gefühl, in einen Spiegel zu schauen.

Sie machten sich einen Spaß daraus, ihre Bewegungen so abzustimmen, dass sie fast synchron waren, bis sie ihr Lachen nicht mehr halten konnten.

Die nächsten zwei Stunden – mindestens, wenn sich keine Lehrerin über den Lärm beschwerte – würden sie endlich einmal wieder im Musikzimmer verbringen können, frei von den Pflichten, die ihnen Mister Hales aufzwingen wollte, wenn sie eine Stunde bei ihm hatten.

Wahrscheinlicher war eher, dass Miss Cromwell sie finden und ermahnend daran erinnern würde, dass sie morgens wieder früh aufstehen mussten und es sich nicht leisten konnten, Zeit zu vertrödeln.

Doch diese Zeit gehörte nur ihnen alleine. Mit schnellen Schritten machten sie sich auf den Weg zum Musikzimmer, und da sie dieses Anwesen nach all den Jahren wie ihre Westentasche kannten, standen sie wenige Minuten später vor den Flügeltüren.

Sie holte den Schlüssel heraus, schloss auf und überließ ihrer Schwester den Vortritt. Diese ging gleich zielstrebig auf ihre Violine zu. Eris setzte sich an den großen Flügel und testete die ersten Töne aus. Ein einzelnes “A” schallte durch den ganzen Raum. Sich mit ihr abstimmend positionierte Ylva ihr Instrument und ließ den Bogen den gleichen Ton erwidern. Sie wärmten sich mit einen Tonleitern auf und kramten dann ihre Noten hervor.

“Ich liebe unser neues Stück”, träumte Ylva beim Anblick der Noten.

“Ja, eine echte Glanzleistung von Williams”, stimmte sie ihrer Schwester zu und ordnete die Blätter vor ihr.

Sie liebten es, miteinander zu musizieren. Eris gab den Rhythmus vor. Sie war die Basis für ihr gemeinsames Stück. Konzentriert hielt sie ihren Blick auf die Noten, um nicht aus dem Takt zu kommen. Ihre Schwester hingegen gab sich der Musik hin und folgte ihrem Rhythmus. Sie war das Herz ihres Stückes und als Eris einen Moment zu ihr hinüberblickte, war sie wie gebannt von der Leidenschaft (und der Hingabe) ihrer Schwester. Sie waren eins mit der Musik. Jeder spielte seinen Teil in perfekter Harmonie mit der anderen.

*

“Ylva.”

Seine Stimme durchschnitt die Stille und sie musste sich zusammenreißen, um nicht die Augen zu verdrehen. Warum meinte Mister Rivers immer, sie dabei erwischen zu können, nicht aufgepasst zu haben?

“Ja?”, fragte sie mit einem möglichst neutralen Ton.

“Können Sie mir sagen, welches Ereignis den November des Jahres 2023 geprägt hat?”

“Selbstverständlich. Durch die steigenden Temperaturen ist ein Großteil von Campland überflutet worden, was die Politiker in der MUNDUS wachgerüttelt hat. Die Vorsitzenden haben noch in dem Monat ein Abkommen unterzeichnet, in dem sie versprochen haben, innerhalb von vierzig Jahren zur Hälfte auf erneuerbare Energien umzusteigen.”

“Sehr gut.”

Sie konnte ihm ansehen, dass er dieses Lob nicht ernst meinte. Für ihn war es nur eine leere Phrase gewesen, aber das war ihr egal. Sie hatte Besseres zu tun, als ihr Selbstwertgefühl darauf zu basieren, was ihr Lehrer dachte.

“Lesen Sie das Kapitel zuende. Ich werde sie in zehn Minuten noch einmal abfragen. Aber, Miss Eris, denken Sie nicht, dass Sie damit aus dem Schneider wären.”

“Natürlich nicht.”

Sie wagte es nicht, vom Buch aufzusehen, um ihr ein Grinsen zuzuwerfen, wusste aber wenigstens, dass ihre Schwester gerade vor dem gleichen Problem stand.

Als die Tür aufgestoßen wurde und mit einem Knall gegen die Wand prallte, zuckte sie beide zusammen. Miss Cromwell hatte sich regelrecht im Türrahmen aufgebaut und brauchte einige Sekunden, um sich zu beruhigen, so außer Atem war sie.

“Der Unterricht ist für diesen Tag beendet. Bitte machen Sie sich reisebereit.”

Nun warfen sie sich doch erschrockene Blicke zu und Eris erhob die Stimme: “Was meinen Sie damit? Eine Exkursion?”

“Nein. Sie verlassen das Internat. Der ehrenwerte Großvater Maxime ist verstorben.”

Sie hatte das einfach so im letzten Satz rausgehauen, sodass sie erst gar nicht realisiert hatte, was ihre Worte bedeuteten. Dann dämmerte es ihr langsam, doch sie bekam immer noch kein Wort heraus.

Maxime? Gestorben? Großvater Maxime, der immer so stark und regelrecht unnahbar erschienen war? Und das, obwohl sie ihre Ausbildung noch nicht einmal abgeschlossen hatten!

Sie fühlte sich wie im Rausch, als sie die ihnen bekannten Wege entlang ging, um ihre Sachen einzupacken. Ihre Schwester schien in einen ähnlichen Schockzustand gefallen zu sein. Wie konnte dies nur passiert sein? Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatten, war er doch wohlauf gewesen. Sie warf einen Blick auf Ylva, die Oberteile und Hosen in ihre Tasche legte. Ihre Augen waren starr aufgerissen, aber Tränen konnte sie nicht erkennen. Jetzt bemerkte sie erst, dass auch sie nicht weinte. Eigentlich wäre dies die normale Reaktion gewesen, wenn der Großvater stirbt. Doch die Tränen kamen nicht.

“Das bedeutet…”, murmelte sie benommen.

“Ja”, antwortete ihre Schwester kurz angebunden. Sie beide wussten, was jetzt passieren würde. Was passieren musste.

“Wir halten zueinander, oder? Egal, was kommt?” Ylva schaute ihr fast schon flehentlich in die Augen.

“Immer”, versprach sie.

Als sie wenige Minuten später die Stufen zu der wartenden Limousine herabstiegen, hatte sie jegliche Zweifel aus ihrem Kopf verbannt. Sie wusste, was sie zu tun hatten. Und sie würden sein Andenken nicht beschämen.

 

Future: Kapitel 1

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