ANDERE SINNE VON KIANA
Lionel trifft auf Kiana (aus der Sicht von Kiana?)
Infos:
Nach der Schule ist Kiana in den Gassen der Stadt unterwegs. Sie will sich die Zeit vertreiben und gleichzeitig nicht auf andere Wesen zu treffen, da sie Angst hat, ihren Mitschüler*innen zu begegnen. Unbewusst aktiviert sie ihre Kräfte und spürt starke rebellische/ästhetische Schwingungen, die sie zu Lionel führen. Beziehungsweise Lionel zu ihr, da sie danach zeitweise erblindet.
Kiana und Lionel unterhalten sich lange, sodass sich Levian Sorgen um seine kleine Schwester macht. Er beginnt nach ihr zu suchen und nutzt seine innige Beziehung zu ihr, um sie mithilfe seiner Fähigkeit aufzuspüren. Er “bricht” beinahe bei Lionel in die “Wohnung” ein und keift seine Schwester an, was zur Hölle sie da tue. Dabei leuchten seine Augen (weil er seine Fähigkeit eingesetzt hat.) Lionel ist geschockt und versteht die Welt nicht mehr.
Notiz: Kiana sieht die “Rebell-Aktionen” zunächst als Abenteuer an. Sie sieht nicht den Ernst der Lage. Sie bemerkt zwar, dass es Ungerechtigkeiten gibt, aber sie realisiert erst im Laufe der Zeit, wie das System funktioniert und dass sie es stürzen müssen.
Notiz: “Wir sind für ein “Füreinander” und kein “Gegeneinander”.
Zusammenfassung:
Kiana will der Schule entfliehen und wandert nach Schulschluss durch die Gassend er Stadt. Dort packt sie eine Vision einer Person und durch die Überanstrengung ihrer Fähigkeiten erblindet sie temporär. Ausgerechnet diese Person – Lionel – findet sie dort und nimmt sie mit in deren Wohnung, wo sie über Kunst sprechen.
Es stellt sich heraus, dass Lionel der:die Graffitikünstler:in „LL“ ist und in deren bekannten Werken gesellschaftskritische Bedeutungen versteckt, die Frieden und Verständnis zwischen Begabten und Unbegabten propagieren. Dann taucht der wutentbrannte Levian – Kianas Bruder – auf und zerrt sie mit, weil er sich Sorgen gemacht hat. Doch als sie ihm später von der Kunst erzählt, hört er ihr zu.
Kapitel:
Kiana schulterte ihren Rucksack und verließ die Umkleidekabine, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie wollte den Blicken ihrer Mitschülerinnen nicht länger ausgeliefert sein. Mit schnellen Schritten überquerte sie den Schulhof, ihre Augen auf die Pforte im hinteren Teil des Zauns gerichtet, die scheinbar seit Jahren von niemenschem anderen mehr benutzt worden war.
Wie jedes Mal quietschte sie grauenerregend, als sie sie öffnete, und sie beeilte sich, eine möglichst große Distanz zwischen sich und das Gelände zu bringen, bevor jemensch von dem Lärm angelockt wurde. Sie hatte sich nicht einmal umgezogen, um ihren Vorsprung auszubauen. Ihre Mitschülerinnen hatten sie schon immer für merkwürdig gehalten und als Außenseiterin abgestempelt. Anfangs hatte sie sich bemüht, dazuzugehören, sich gut mit ihnen zu stellen, aber alle ihre Versuche schlugen fehl. Irgendwann hatte sie es aufgegeben und ihre Rolle akzeptiert.
Missmutig kickte sie einen kleinen Stein aus dem Weg. Sie wollte noch nicht nach Hause. Dort würde ihr Alltag einfach weitergehen. Sie würde duschen gehen, saubere Sachen anziehen und dann ihre Hausaufgaben erledigen. So wie jeden Tag. Kiana seufzte. Wenn sie möglichst lange draußen blieb, würde sie das Unvermeidliche noch ein bisschen länger hinauszögern können.
Sie schlenderte ziellos durch die Gassen. Es waren wenige Leute auf der Straße und je weiter sie sich in das Labyrinth aus Gassen verirrte, desto ruhiger wurde es.
Mit einem Mal durchzuckte es sie wie ein Blitz. Sie spürte, wie ihre Augen zu leuchten begannen und die Wucht der Erkenntnis zwang sie in die Knie. Jemensch war in ihrer Nähe. Jemensch Wichtiges, auch wenn sie noch nicht sagen konnte, wieso.
Woher war dieses Gefühl gerade gekommen? So etwas hatte sie noch nie erlebt. Panisch versuchte sie, diese eigenartige Vision wegzublinzeln. Als es vor ihren Augen plötzlich schwarz wurde, stockte sie.
Ein Teil von ihr erinnerte sich an ähnliche Situationen, in der sie ihre Kräfte überanstrengt und den Preis dafür gezahlt hatte, aber komplett blind war sie dadurch noch nie geworden. Wenigstens wusste sie, dass dieser Effekt nicht allzu lange anhalten würde.
Aus Gewohnheit überlegte sie, ihre Brille aus der Tasche zu fischen, verwarf den Gedanken allerdings wieder, als ihr klar wurde, dass es in dieser Situation keine Verbesserung bringen würde.
Sie überlegte, was sie nun tun sollte. Würde sie in diesem Zustand nach Hause finden? Sie ertastete die Wand neben sich und richtete sich unsicher auf. In welchem Teil der Stadt war sie eigentlich gelandet?
Jetzt wurde es ihr zum Verhängnis, dass sie ihren Spaziergang so hinausgezögert hatte. Eigentlich hätte sie nach Gefühl eine Richtung eingeschlagen, um sich wieder auf den richtigen Pfad zu bringen, doch das fiel jetzt flach.
“Alles in Ordnung, Kleine?” Eine Stimme hallte durch die Gasse. “Hast du dich verirrt?”
Kiana traute sich nicht, zu antworten. Sie nickte vorsichtig, in der Hoffnung, dass die fremde Person es sehen würde.
“Soll ich dir helfen, nach Hause zurückzufinden?” Vorsichtig legte die Stimme ihr eine Hand auf die Schulter. Jetzt erkannte sie, dass ihre Vision dem gegolten hatte. Sie erfuhr auch, dass ihr Gegenüber nicht so war wie sie. Dey war ein Niedermensch. Sogleich ärgerte sie sich über den Begriff, den ihr Gehirn ausgewählt hatte, doch sie hatten keinen anderen, um dem zu beschreiben. Ihr Gegenüber war freundlich zu ihr gewesen und sie hatte ihn beleidigt, wenn auch nur gedanklich.
Sie zwang sich, über deren Frage nachzudenken. Konnte dey ihr helfen? Allerdings durfte dey den Stadtteil, in dem sie lebte, gar nicht betreten. Der Zugang war nur ihrer Spezies erlaubt. Außerdem bezweifelte sie, dass sie in ihrem Zustand die richtige Richtung einschlagen würde. Sie musste sich eine Ausrede einfallen lassen.
“Ich kann noch nicht nach Hause. Meine Eltern müssen noch arbeiten und haben den Wohnungsschlüssel bei sich.” Sie hoffte, dass sich ihre Lüge glaubhaft anhörte.
Kiana spürte, wie sich die fremde Person umschaute.
“Es ist schon dunkel und nicht mehr sicher hier”, murmelte dey eher zu sich selbst. Dey schwieg einen Moment. Sie spürte einen sanften Windhauch vor ihrem Gesicht.
“Bist… bist du blind, Kleine?”, fragte dey schockiert, obwohl dey versuchte, Ruhe zu bewahren.
Sie nickte verhalten, unwillig, sich in langen Beschreibungen zu umgehen.
“Komm mit. Ich bringe dich erst einmal in meine Wohnung. Dort überlegen wir weiter”, begann dey, “Ach ja, ich bin übrigens Lionel.”
“Kiana.”
Sie wehrte sich nicht. Sie ließ sich von dem durch die Gassen leiten und überlegte währenddessen unter Hochtouren, was sie nun tun sollte. Dey musste davon ausgehen, dass sie genauso war wie dey. Deshalb musste sie so lange wie möglich versuchen, ihre Fähigkeit vor dem geheim zu halten. Allerdings konnte sie ihre Kräfte in ihrem derzeitigen Zustand sowieso nicht einsetzen. Außerdem wollte sie noch herausfinden, warum ihr die Vision von dem so zugesetzt hatte. Sie musste deren Vertrauen gewinnen und dem besser kennenlernen. Wenn dey erfahren würde, dass sie kein Niedermensch war, wäre die gute Basis, die sie schon aufgebaut hatten, sofort wieder hin gewesen.
Ihre Gedanken kreisten noch immer umher, als sie plötzlich stehen blieben. Dey wies sie an, kurz zu warten und ließ ihre Schulter los. Sie zuckte zusammen, als sie das schlimmste Quietsch-Geräusch hörte, das wohl jemals produziert worden war.
“Tut mir leid, das Tor ist ein wenig verrostet”, entschuldigte dey sich schnell und schob sie sanft in deren Wohnung. Dey führte sie zum Sofa und eilte in die Küche, um Wasser aufzusetzen.
“Tee?”, bot dey an.
“Gerne.”
Sie hätte sich gerne umgeschaut. Noch nie war sie in der Wohnung eines solchen Menschen gewesen. Sowieso war sie ziemlich überrascht von diesem. Warum war dey besonders? Warum hatte ihre Kraft sie zu dem geführt?
Das Pfeifen des Wasserkochers riss sie aus ihren Gedanken. Schritte kamen näher.
“Vorsicht, ist noch heiß.” Langsam übergab dey ihr die Tasse, bis dey sicher war, dass Kiana sie gut im Griff hatte. Sie spürte den warmen Wasserdampf in ihr Gesicht steigen. Wie lange war sie jetzt schon ohne Augenlicht? Sie hatte kein sonderlich gutes Zeitgefühl, aber eine halbe Stunde war sicherlich schon vergangen. Wieso konnte sie nicht mittlerweile schon wieder sehen?
Sie pustete in den Becher, oder zumindest ging sie davon aus, dass sie das tat, und probierte vorsichtig einen Schluck. Der Tee war wirklich noch sehr heiß, aber das störte sie an diesem Abend nicht. Sie war sich allerdings nicht sicher, ob sie das Getränk vor sich “Tee” nennen konnte. Es war vielmehr heißes Wasser mit einem Hauch Geschmack, aber sie wollte sich nicht beschweren.
“Hast mich ziemlich überrascht, Kleine”, begann ihr Gegenüber und ließ sich geräuschvoll auf einen Sessel fallen. “Ich war gerade bei der Arbeit, als ich dich aus dem Augenwinkel gesehen habe.”
“Danke, dass du mir geholfen hast”, begann sie, als ihr auffiel, dass sie bisher ein bisschen zu schweigsam gewesen war, “Und tut mir leid, dass du deine Arbeit unterbrechen musstest.”
“Ach, das ist nicht schlimm. Ich kann mir meine Zeiten sozusagen selbst einteilen.”
“Wieso denn das?”
Ihres Wissens nach wurden Niedermenschen meistens in Fabriken eingesetzt, wo sie unter direkter Aufsicht von Begabten stehen konnten, die ihnen bei jeder Tätigkeit auf die Finger guckten, um sicherzustellen, dass sie keine Fehler machten.
Sie konnte deren Zögern spüren, dann entschied dey sich jedoch zur Offenheit: “Ich bin Künstler.”
“Oh, was denn für Kunst?”
Sie war ernsthaft neugierig auf deren Antwort, weil sie sich nicht vorstellen konnte, wie deren Werke aussehen konnten. Eigentlich hatte sie das Thema immer mit Begabten in Verbindung gebracht, die sich schon während der Schulzeit mit der Kunst und ihrer Geschichte auseinander setzten.
“Hauptsächlich Graffiti, aber ich fertige auch Gemälde auf Bestellung an”, erklärte dey ihr.
Sie musste sofort an die Werke denken, die die Gänge ihrer Akademie zierten. Meistens wunderschöne Landschaftsaufnahmen, dazwischen immer wieder Portraits von wichtigen Mitgliedern der Gesellschaft.
Irgendwie konnte sie sich allerdings nicht vorstellen, dass dey die gleichen Thematiken verarbeitete. Sie sah dem nicht geduldig vor einer Leinwand sitzen und einen einsamen Wald zeichnen, vor allem, weil dey schon zugegeben hatte, sich auch für Graffiti zu interessieren.
“Ich wünschte, ich könnte eines von deinen Bilder sehen”, rutschte es aus ihr heraus.
“Ich kann es dir beschreiben, wenn du willst.”
“Ja, bitte.”
Sie konnte hören, wie dey aufstand und ein paar Schritte ging. Hatte dey hier etwa Bilder auf Staffeleien herumstehen, von denen dey sich gerade eins aussuchte? Es dauerte jedenfalls nicht lange, bis dey sich neben sie setzte und sie das stetige Rascheln von Papier vernahm. Sah dey gerade weitere Bilder durch?
Als dey mit der Auswahl zufrieden war, hob dey zu seiner Beschreibung an: “Ich arbeite gerne mit Gegensätzen und vereine sie dann an einer Stelle. Auf dieses Werk bin ich besonders stolz. Ich habe mir zwei verschiedene Farbkonstellationen ausgesucht, die aufeinander zu steuern und in der Mitte etwas Neues bilden. An dieser Stelle treffen die Farben aufeinander, aber anstatt sich zu einem grauen Haufen zu vermischen, ergänzen sie sich und bilden ein buntes Geflecht.”
“Oh, das hört sich nach einem farbenfrohen Bild an”, bemerkte sie.
Wirklich vorstellen konnte sie es sich noch nicht, jedenfalls bezweifelte sie, dass sie instinktiv die richtigen Farben gewählt hatte.
“Es geht aber nicht nur um die Farben”, fuhr dey fort, “sondern auch um die Bedeutung dahinter.”
“Die Bedeutung dahinter?”
Sie war ehrlich verwirrt, weshalb sie den letzten Teil seines Satzes stumpf wiederholte. Nach deren Beschreibung hatte es sich angehört wie ein Wirrwarr aus Farben und nichts, hinter dem sich ein tieferer Sinn versteckte.
“Ja. Grob gesagt geht es mir darum, zu verdeutlichen, wie Menschen trotz ihrer Unterschiede zusammenfinden und sich respektieren können. Nur, wenn wir zusammenarbeiten, können wir in dieser Welt wirklich etwas verändern.”
Darauf wäre sie wahrscheinlich nicht gekommen, aber deren Erklärung interessierte sie, sodass sie eine weitere Frage stellte: “Hattest du konkrete Unterschiede im Sinn?”
Das konnte sie sich gut vorstellen, nachdem dey bereits aus den Farben alleine so viel Bedeutung hatte ziehen können.
“Na ja, wir unterscheiden uns schon ziemlich von den Begabten. Jedenfalls wollen sie uns glauben lassen, dass diese Unterschiede praktisch unüberbrückbar sind. Aber ich denke, dass wir viel voneinander lernen können, wenn wir offen auf einander zugehen würden. Auch wenn sie wohl diejenigen sind, die den ersten Schritt tun müssen.”
Während sie dem zuhörte, bemerkte sie, wie es langsam etwas heller wurde. Sie blinzelte ein paar Male, bis sie sich sicher war, dass sie wirklich gerade die Farben des Fotos hatte erkennen können: Grüne Dreiecke und blaue Kreise, die sich in der Mitte trafen und eine Vielfalt von anderen geometrischen Formen ergaben.
In dem Moment fiel ihr auf, dass sie die Formen gar nicht erkennen konnte, dafür war ihre Sicht zu verschwommen. Ihr Verstand hatte sie nur automatisch hinzugefügt, weil sie dem Graffiti jeden Nachmittag auf ihrem Nachhauseweg begegnete.
“Ach, du bist das? Mit der Signatur LL?”
Dey spannte sich neben ihr an. Kein Wunder, denn wahrscheinlich war es nicht gerade erwünscht, wenn dey dieses Kunstwerk an ihre Mauern zu sprühte.
“Ja…”, gab dey zögernd zu, “Aber bitte geh’ damit nicht unbedingt hausieren. Ich würde gerne damit weitermachen können.”
“Natürlich. Mir gefällt deine Kunst.”
“Danke, es ist mir wichtig, anonym zu bleiben.”
Ihre Sehkraft war inzwischen so weit zurückgekehrt, dass sie auch die Umrisse der Möbel sehen konnte. Allerdings entsprach ihre Umgebung so gar nicht ihrer Vorstellung: Statt eines luftigen Apartments, dessen Fensterfront eine weitläufige Aussicht über die Stadt bot, nur verdeckt von zahlreichen, wild herumstehenden Staffeleien, sah sie nun eine kleine, dunkle Wohnung, die mehr einer Höhle ähnelte.
Das Sofa, auf dem sie saßen, hatte schon einen zerrissenen Bezug, der kleine Couchtisch musste mit Zeitschriften auf die richtige Höhe gebracht werden. Außerdem gab es nur eine einzige Staffelei, auf der momentan ein unfertiges, abstraktes Bild thronte.
Andere Leinwände waren in der Wohnung verteilt. Praktisch jede freie Fläche war genutzt worden, um Gemälde unterzubringen, sodass es fast ein Wunder war, dass sie auf ihrem Hinweg in keine getreten war.
Lebten so alle Niedermenschen? Nach den Informationsvideos des Büros für Aufklärung hatte sie schon gewusst, dass sie sich nicht den gleichen Lebensstandard wie Begabte leisten konnten. Sie hatten einfach nicht die gleiche Qualifikation für die besser bezahlten Jobs, doch die Bilder hatten es ganz anders wirken lassen.
Bevor sie das Gespräch fortführen konnten, wurde die Eingangstür aufgerissen. Sie musste nicht herüberschauen, um zu wissen, wer da stand. Wutentbrannt verschaffte er sich einen groben Überblick, dann richtete er seinen Blick auf sie: “Was zum Henker machst du hier?!”
Lionel war alarmiert aufgesprungen und starrte den Eindringling an.
“Was machen Sie in meiner Wohnung?!”
Dey traute sich nicht, dem Mann entgegenzutreten. Seine leuchtenden Augen mussten dem verraten haben, dass er ein Begabter war.
Der Mann in der Tür interessierte sich nicht für dem und blickte geradewegs Kiana an.
“Du kommst jetzt sofort mit mir nach Hause!”
“Kiana, kennst du diesen Mann?”
Jetzt schaute auch Lionel in ihre Richtung.
Sie gab sich geschlagen.
“Ja, das ist mein Bruder.”
Lionel wirkte verwirrt. Er schien die ganzen neuen Informationen erst verarbeiten zu müssen. Sie sah dem an, dass sich das Bild allmählich vervollständigte.
“Das heißt, du bist eine… Begabte?”
Und damit war der Beginn einer möglichen Freundschaft dahin. Mit einem einzigen Auftreten ihres großen Bruders mit seinem ausgeprägten Beschützerinstinkt, der nicht damit leben konnte, dass sie ein paar Stunden später nachhause kam.
“Wir gehen jetzt.”
Eindringlich starrte Levian sie an und sie wusste, dass er keine Widerworte dulden würde. Seufzend stand sie auf und begann, in seine Richtung zu gehen, bevor der Kampfgeist noch einmal Besitz von ihr ergriff: “Ich will aber noch nicht gehen! Wir haben uns gerade erst über Kunst unterhalten.”
Sie konnte ihm jetzt schon ansehen, dass ihn das Thema ihres Gesprächs ganz und gar nicht interessierte. Anstatt verbal zu antworten, machte er einen großen Schritt auf sie zu und packte ihren Arm, um sie mitzuzerren.
Vor dem Ausgang drehte sich er noch einmal zu Lionel um, der die Szene fassungslos zur Kenntnis genommen hatte, und sagte: “Wenn ich dich noch einmal in der Nähe meiner kleinen Schwester erwische, bist du dran!”
Für einen Moment sah dey so aus, als wollte dey protestieren, dann ging dey jedoch dazu über, sich zu rechtfertigen: “Ich wollte ihr doch nur helfen.”
Das ließ er nicht als Ausrede gelten.
“Komm, lass dem. Ich komme ja schon.”
Sie wollte wirklich nicht, dass der nette Künstler ihretwegen in Schwierigkeiten geriet. Vor allem, weil sie nicht von Anfang an mit offenen Karten gespielt hatte.
Ohne ein weiteres Wort zog Levian sie aus der Wohnung und knallte die Tür hinter sich zu. Sie konnte nur noch einen letzten, entschuldigenden Blick auf Lionel werfen. Den Rückweg brachten sie schweigend hinter sich.
Genug Zeit für sie, die Ereignisse des Tages Revue passieren zu lassen. Vielleicht hatte sie irgendeinen Hinweis darauf übersehen, warum ihre Fähigkeiten so auf dem angesprungen waren.
Automatisch blieben ihre Gedanken bei deren Kommentar zu den Unterschieden zwischen Niedermenschen und Begabten hängen. Wieso nur war dey der Meinung gewesen, dass ausgerechnet sie einen Schritt auf die anderen zu machen mussten?
Es gab Menschen, die die Begabten für ihre Lage verantwortlich machten. Sie sahen einfach nicht ein, dass sie sich selbst in ihre jeweiligen Lebenssituationen gebracht hatten und suchten verzweifelt nach einem Sündenbock.
So war das jedenfalls in den Aufklärungsvideos beschrieben worden, doch wenn sie an Lionel und deren offene, ehrliche Art dachte, konnte sie sich das bei dem einfach nicht vorstellen. Dey schien niemensch zu sein, der anderen die Schuld in die Schuhe schob, um seine eigenen Mängel nicht sehen zu müssen.
*
“Was hast du dir nur dabei gedacht?!”
Levian hatte den kompletten Rückweg über geschwiegen, aber Kiana hatte gewusst, dass das Streitgespräch nicht lange auf sich warten lassen würde. Wenigstens hatte sie ihre Sehkraft wieder zurückerlangt und konnte ihm dementsprechend wütende Blicke zuwerfen.
“Dey hat mir doch nur geholfen!”
Ihr Bruder schnaubte verächtlich.
“Bist du dir auch ganz sicher? Nicht, dass du plötzlich feststellst, dass dein ganzes Bargeld verschwunden ist.”
“Oh ja, zwischen dem Tee und unserem Gespräch hat sich dey bestimmt an meinem Rucksack zu schaffen gemacht. Dey ist das pure Böse, das habe ich auch gleich gespürt als dey mir aufgeholfen hat.”
“Wag es nicht, so herablassend mit mir zu sprechen!”
Sie antwortete nicht auf seinen energischen Ausruf.
“Ich mache mir doch nur Sorgen um dich”, fügte er wesentlich ruhiger hinzu, obwohl es ihm sichtlich schwer fiel, sich zu beherrschen.
Sie fühlte, wie sich ihre Wut in Luft auflöste. Müde ließ sie sich auf das Sofa fallen. Zum ersten Mal in ihrem Leben wusste sie zu schätzen, dass sich keine herausstechenden Federn in ihren Rücken bohrten und die Füllung an ihrem Platz blieb. Levian ließ sich neben sie fallen.
“Weißt du, dey hat mir interessante Dinge erzählt”, begann sie vorsichtig das Gespräch.
Da ihr Bruder sie nicht unterbrach, beschloss sie, weiterzureden: “Dey hat über deren Kunst geredet und die Botschaft dahinter. Du kennst doch dieses Graffiti mit den Farben, die sich in der Mitte treffen. Mit den Dreiecken und den Quadraten.”
“Ja…”, gab er zögernd zu. Kiana wusste allerdings, wie sehr er dieses Graffiti bewunderte. Es war eines seiner Lieblingswerke, obwohl er sein Interesse an Kunst niemals laut zugeben würde.
“Es ist gesellschaftskritisch, wusstest du das?”
Er schaute sie verständnislos an. Ungefähr so hatte sie sich gefühlt, als Lionel ihr das offenbart hatte.
“Es appelliert an die Offenheit und den möglichen Zusammenhalt zwischen den Niedermenschen und uns.”
Sie musste ein Grinsen unterdrücken. Normalerweise war er es, der ihr Sachen erklären musste und sie genoss es, dass sie dieses Mal die Oberhand hatte.
“Das wundert mich nicht wirklich, dass ein Niedermensch solche Botschaften verbreiten will. Der will doch nur von unserem Reichtum profitieren.”
“Dey wusste doch anfangs gar nicht, dass ich eine Begabte bin!”, verteidigte sie Lionel. “Außerdem wäre dey die bessere Ansprechperson, wenn du unbedingt diskutieren willst.”
Levian setzte schon zur Antwort an, brach dann aber ab. Sie wusste, dass er jetzt erst einmal Zeit zum Nachdenken brauchte. Das war ein gutes Zeichen, beschloss sie und ging in ihr Zimmer.
Kommentare
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→ ein Regenbogen für Lionel
→ Sie behauptet, dass sie noch nicht nachhause kann, weil ihre Eltern länger arbeiten und den Schlüssel haben, damit er sie zu sich einlädt und sie herausfinden kann, warum er besonders ist
→ sie findet heraus, dass Lionel nicht weiß, dass sie eine Begabte ist
→ er beschließt, sie erst einmal mitzunehmen und macht ihr einen Tee, um sich zu beruhigen (ihr Augenlicht ist noch immer nicht zurückgekehrt). Der Tee ist qualitativ viel schlechter als der, den sie gewöhnt ist
→ Lionel kommt ins Gespräch, dass er gerade an seinem neusten Werk gearbeitet hat, als er Kiana entdeckte. Er erzählt von sich als Künstler und Kiana erkennt ihn.
→ sie hat seine Arbeiten immer als Kunst, aber nie als Protestkunst gesehen (auf dem Weg durch die Gassen)
→ Lionel beschreibt sein Lieblingswerk und Kiana erkennt den Stil