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Jodie und Ragnar suchen Lionel auf, um dey zu rekrutieren. Sie treffen dey an, während dey Besuch von Kiana und Levian hat. Kiana hat ihren Bruder gezwungen, noch einmal zu Lionel zu gehen, um sich anzuhören, was dey zu sagen hat. Kiana ist überzeugt davon, dass auch Levian die Augen geöffnet werden können. Während das Gespräch im Gange ist, tauchen Jodie und Ragnar auf. Die Stimmung ist sehr angespannt und beinahe feindselig.
Lionels Pronomen: dey (pl.)
Zusammenfassung:
Kiana und Levian sind auf Kianas Bitte zu Besuch bei Lionel und unterhalten sich über deren Kunst. Jodie und Ragnar stürmen herein, in dem Glauben, dass Lionel Geisel der beiden Begabten ist. Levian entwaffnet sie mit seiner Telekinese spielerisch, aber Kiana und dann auch Ragnar glätten die Wogen.
Die drei Menschen sprechen miteinander, nachdem die Begabten gegangen sind, und Jodie und Ragnar überzeugen Lionel, als Künstler:in für ihre Sache einzustehen. Dabei kommen ihre teils berechtigten, teils unberechtigten Vorurteile über Begabte heraus.
Kapitel:
Deren Wohnung war mit einem Mal so voll geworden. Voll von diskutierenden Stimmen, voll von fremden Menschen und überraschenderweise auch voll von Begabten. Lionel hatte noch nie so viele Leute zu Besuch gehabt.
Zuerst waren Kiana und ihr Bruder hereingeschneit – Wie auch immer sie ihn überzeugt hatte, dass dey doch kein Unmensch war – und hatten eine Diskussion über deren Kunst angefangen. Ein bisschen wie ein Fantreffen, nur dass Levian, so hatte er sich vorgestellt, nicht unbedingt begeistert gewesen war.
Zumindest hatte er schon einen besseren Eindruck als seinen ersten hinterlassen. Er hatte zwar so gut wie jeden Satz, der aus deren Mund gekommen war, kritisch hinterfragt, diesen Dialog aber auch zugelassen. Trotzdem war es denen anfangs ein bisschen wie ein Verhör vorgekommen.
Jetzt, wo sie entspannt auf dem Sofa saßen, hatte Lionel Zeit, sich die beiden Geschwister genauer anzusehen. Kiana war klein und schlank. Ihre schwarzen Locken standen wild von ihrem Kopf ab. Ihre Haut war dunkler als die braune Haut ihres Bruders. Im Gegensatz zu ihm hatte sie braune Augen, keine grünen. Jetzt wo dey darüber nachdachte, erinnerte dey sich auch an die leuchtend grünen Augen, mit denen er das erste Mal in deren Wohnung hineingestürzt war. Levian war groß und sportlich gebaut. Mit seinen breiten Schultern und seinen kurzen dunklen Haaren fügte sich das Bild des College-Sportlers.
“Was für eine Botschaft hast du dir für dieses Bild gedacht?”
Lionel lächelte verlegen und gab zu: “Ehrlich gesagt ist das einfach nur ein Portrait. Für fünfzig Marken komme ich gut über den Monat, da lohnt es sich schon mal, seine Ideale zu verraten und eine Abgeordnete wie xy zu malen.”
“Fünfzig Marken?”, fragte sie entgeistert und zog scharf die Luft ein, “So viel kostet das Mittagessen in der Schulcaféteria. Und das reicht dir für einen ganzen Monat?”
“Meistens reicht es hinten und vorne nicht, aber ich komme irgendwie über die Runden.”
Die Geschwister warfen sich einen gequälten Blick zu. Dey hatte sie mit diesem Kommentar sichtlich aus der Bahn geworfen und die Plauderei, die gerade begonnen hatte, entspannter zu werden, unterbrochen.
“Was für Fähigkeiten habt ihr eigentlich?”, fragte dey nach, um die Stimmung wieder zu heben.
Kiana antwortete zuerst, und Stolz und Unwohlsein mischten sich in ihrer Stimme: “Ich bin Telepathin.”
Ihr Bruder hingegen sah nicht so aus, als wolle er antworten, bis sie ihm den Ellenbogen in die Seite stieß und er grummelte: “Ich beherrsche Telekinese, also mach’ bloß keinen Scheiß.”
In dem Moment flog die Tür auf. Mit einem lauten Knall prallte sie gegen die Wand und zwei Gestalten stürmten in den Raum, ihre Schlagwaffen erhoben.
Entsetzt zuckte deren Blick zu den beiden Begabten. Levian hatte sich schon kampfbereit erhoben, war wohl direkt aufgesprungen, aber Kiana war schneller: Ihre Augen begannen zu leuchten.
Lionel schaffte es nicht mehr, zu fragen, was sie da tat.
“Stop!”, rief sie auf einmal, “Wir sind keine Feinde!”
Beide Parteien hörten tatsächlich auf ihren Befehl und starrten sie entgeistert an.
“Ich bin Telepathin, ich weiß das!”, beteuerte sie schnell.
“Ihr habt zehn Sekunden, um zu erklären, warum ihr ihn bedroht.”
Die Frau war vorgetreten. Sie hatte das Stahlrohr, das ihre behelfsmäßige Waffe darstellte, zwar nicht mehr schlagbereit erhoben, komplett gesenkt war es jedoch nicht. Dass dey sie als Anführerin identifizierte, lag nicht nur daran, dass sie das Wort erhoben hatte, sondern auch an ihrem resoluten Auftreten.
Sie hatte kurzgeschnittene, dunkle Haare und einen verkniffenen Zug um den Mund. Auch ihre Kleiderwahl, ein Top mit offenem Hemd darüber und eine sportliche Hose, erinnerte dey irgendwie an eine Soldatin.
Der Mann, der noch im Eingangsbereich stehen geblieben war, hatte unauffällige schwarze Sachen an. Ein Teil seiner langen, hellbraunen Haare waren zu einem lockeren Zopf zusammengebunden. Er trat in die Wohnung und schloss die Tür hinter sich.
“Schluss mit dem Schwachsinn”, Levians Stimme durchschnitt die Stille. Mit einer kleinen Handbewegung entriss er den Neuankömmlingen ihre provisorischen Waffen, die darauf hin in die nächste Ecke flogen.
Die Soldatin zögerte keine Sekunde und hechtete ihrer Waffe hinterher. In einer Bewegung riss sie an sich und stürmte auf Levian zu.
“Glaubst du ernsthaft, dass du mich damit verletzen kannst?”, gab dieser nur zurück.
Er streckte die flache Hand aus und die Angreiferin prallte zurück, als sei sie gegen eine Wand gelaufen. Ungläubiger Zorn verzerrte ihr Gesicht, aber sie konnte sich nicht mehr rühren. Die Muskeln in ihrem Arm spannten sich an, doch das Rohr rührte sich keinen Millimeter.
Dey hatte diesen Schlagabtausch fassungslos verfolgt. Jetzt sprang dey jedoch auf und stellte sich zwischen die Fronten.
“Jetzt beruhigen wir uns alle mal wieder. Wir sind hier auf neutralem Boden.”
“Hier sind gerade bewaffnete Irre in deine Wohnung gestürmt!”, kam es direkt von Levian zurück, während die Frau gleichzeitig erwiderte: “Aber du wirst doch von Entarteten bedroht!”
Als ein Klatschen ertönte, drehten sich alle im Einklang zu dem langhaarigen Mann um, der bisher geschwiegen hatte. Nun war er vorgetreten und begann zu sprechen, nachdem er die Aufmerksamkeit für einen Moment genossen hatte: “Es ist schon genug unschuldiges Blut vergossen worden! Diese Begabten haben eindeutig versucht, Lionel zu beschützen. Sie sind nicht unsere Feinde! Also lasst uns alle unsere Waffen niederlegen und diesen Konflikt mit Worten lösen!”
Begeistert nickend stimmte Kiana zu: “Endlich denkt hier mal jemand vernünftig!”
Levian ließ seine Hand wieder sinken und befreite die Soldatin damit aus ihrer Starre. Einen Moment lang starrte sie ihn widerwillig an, dann schleuderte sie das Rohr zu Boden.
“Was machen die hier?”, fragte sie, nun direkt an Lionel gerichtet.
“Das ist kompliziert”, gab dey zu, “Aber sie hätten genug Chancen gehabt, mich auszuliefern. Dein Freund hat recht, sie sind keine Feinde.”
Der Erwähnte nickte beifällig.
“Und kann mir mal jemand erklären, ob es normal bei euch ist, bewaffnet in fremde Wohnungen einzudringen?”
“Wir Normalos sind halt aufeinander angewiesen. Wenn wir das Gefühl haben, dass jemand bedroht wird, schreiten wir ein”, erklärte die Soldatin bissig.
“Bevor wir uns weiter die Köpfe einschlagen, sollten wir uns vielleicht erst einander vorstellen.” Kianas Stimme linderte die angespannte Atmosphäre im Raum. “Ich bin Kiana”, begann sie die Vorstellungsrunde. Die beiden Störenfriede (Rabauken) stellten sich als Jodie und Ragnar vor, nachdem Levian und Lionel ihrem Beispiel gefolgt waren.
“Trotzdem sind wir hier, um mit Lionel zu sprechen – Ohne Außenstehende.”
Bevor es zu weiteren Streitereien kommen konnte, zog Kiana ihren Bruder sanft am Arm und geleitete ihn aus der Wohnung. Sie warf einen letzten Blick auf Lionel, nickte denen zum Abschied zu und schloss hinter sich die Tür.
“Fühlt euch wie zuhause”, meinte Lionel mit einer einladenden Geste und begab sich zu einer großen Leinwand in der Ecke des Apartments. Dey begann für das unfertige Portrait, das schon ungeduldig erwartet wurde, Farben zu mischen. “Wäre übrigens nett, wenn ihr nächstes Mal anklopft.”
“Sorry, aber wir haben nicht damit gerechnet, dass du Besuch von Entarteten hast. Und Das ist kompliziert reicht uns nicht als Erklärung.”
“Wie wäre es, wenn ihr mir erst mal erklärt, was ihr hier wollt? Immerhin ist das meine Wohnung”, gab Lionel ruhig zurück, während dey den ersten Pinselstrich auftrug, “Aber macht es euch doch erst gemütlich. Ich habe leider nur Wasser im Angebot.”
Den beiden fiel es sichtlich schwer, runterzukommen. Dey konnte ihnen förmlich ansehen, wie das Adrenalin noch durch ihre Adern floss. Jodies Augen zuckten hin und her, wahrscheinlich auf der Suche nach weiteren Feinden, während Ragnar sie zum Sofa lotste.
“Wir dürfen keine Zeit mit Gequatsche verschwenden! Wir haben eine wichtige Mission!”, meckerte sie, ließ sich aber nieder.
Um die Situation nicht wieder eskalieren zu lassen, lenkte dey ein: “Okay, okay. Erzählt mir doch einfach, warum ihr hier seid und dann gucken wir weiter.”
“Du hast doch gesehen, wie stark unsere Gegner sind”, setzte Jodie an, doch Lionel unterbrach sie: “Die beiden sind nicht unsere Gegner. Tatsächlich sind das die einfühlsamsten Begabten, die mir je begegnet sind.”
Ragnar, der bisher still zugehört hatte, warf ein: “Hast du dir schon überlegt, dass diese Telepathin dich einfach benutzt? Für eine Entartete mit ihren Fähigkeiten sollte das eine Leichtigkeit sein.”
“Ihr vertraue ich mehr als euch. Aber lasst uns bei den Fakten bleiben, sonst sitzen wir hier morgen noch.”
“Auch, wenn einige Entartete nett erscheinen können, bleiben sie Feinde unserer Art. Wir kämpfen dafür, dass ihre Terrorherrschaft über die Menschen endet, und wir haben gehört, dass du das auch tust, nur auf andere Art und Weise. Leute wie wir müssen zusammenarbeiten, wenn wir erfolgreich sein wollen”, erklärte Jodie, obwohl es sie sichtlich Mühe kostete, ruhig zu bleiben.
“Ich bin kein großer Kämpfer”, entgegnete dey und setzte gezielt den nächsten Pinselstrich.
“Keiner verlangt von dir, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Mit deiner Kunst kannst du mehr bewirken, als du denkst.”
Ragnar stand auf und klopfte ihm auf die Schulter, was deren Pinsel aus der Bahn brachte. Dey zog ihn versehentlich quer über das Auge der Porträtierten und seufzte laut. Dann legte dey das Werkzeug nieder und wandte sich den beiden zu.
“Was genau habt ihr mit mir vor?”
“Wir brauchen deine Expertise und die Aufmerksamkeit, die deine Kunst generiert.”
Jetzt mischte sich Jodie wieder in das Gespräch ein. “Wenn du dich mit uns verbündest, musst du keine dämlichen Porträts mehr für einen Hungerlohn malen. Wir nehmen uns selbst, was uns zusteht, ohne um Almosen betteln zu müssen.” Dey erkannte das lodernde Feuer in ihren Augen und war augenblicklich von dem Tatendrang der Rebellen angesteckt. Das war die Möglichkeit, um endlich aus diesen elenden Gassen zu entkommen, und wichtigere Ziele in Angriff zu nehmen.
“Aber wir können keine Leute in unser Hauptquartier lassen, die Kontakt zu denen haben.”
“Obwohl”, warf Ragnar ein, “Denkst du nicht, dass der Kontakt nützlich sein könnte? Wenn diese beiden auf unserer Seite sind, können wir das für unsere Zwecke nutzen.”
“Genau! Sie denken, sie können uns manipulieren, aber in Wirklichkeit haben wir die Fäden in der Hand” Jodie schien bereits für diese Idee gewonnen.
Lionel verfolgte den Dialog mit einem wachsenden Unwohlsein. Kurz hatte dey überlegt, etwas zu erwidern, brach deren Vorhaben jedoch ab. Dey würde garantiert nicht zu solchen Mitteln greifen, aber das mussten die beiden ja nicht wissen.
“Na los, pack deine Sachen und wir verschwinden von hier!”
Etwas überrumpelt sah sich Lionel um. Deren Malutensilien mussten mit, sonst konnte dey nicht deren Aufgaben nachgehen. Ansonsten besaß dey nichts von Wert, und diese Bruchbude würde dey auch nicht vermissen. Ob das Leben im Hauptquartier von staatlich gesuchten Rebellen besser war, stand auf einem anderen Stern.
Trotzdem machte sich dey motiviert an die Arbeit. Die Farben und leeren Leinwände waren schnell zusammengepackt. Um die bereits bemalten tat es denen leid, aber dey wusste, dass dey diesen Teil deren Lebens nun hinter sich lassen musste.
Zum Schluss schrieb dey noch eine Notiz für Kiana: “K., komm am Samstag zum Filmfestival am Alten Markt.“